Im Gespräch mit Dietrich Schulze-Marmeling, Autor diverser Fußballbücher, über seine „Boykott-Katar-Initiative“ und die fragwürdige Politik von FIFA und Co. Dieter Schulze-Marmeling schreibt hauptsächlich über Fußball, häufig über Fußball und Politik, manchmal auch nur über Politik (vor allem Nordirland). Dort lebte er zwischen 1988 und 1989 für ein Jahr. Diese Zeit hat ihn mehrfach geprägt, auch dahingehend, Fußball als gesellschaftliche Angelegenheit zu betrachten und sich intensiver mit seiner sozialen Seite zu beschäftigen. Schulze-Marmeling ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur.
Das Gespräch führte Katharina Dahme.
R: Dietrich, ich weiß nicht, wie es dir ging, aber ich bin etwas überrascht worden davon, dass eine Fußball-EM ins Haus steht. Freust du dich auf das Turnier?
DSM: Nicht wirklich. Ehrlich gesagt, hatte ich das Turnier auch nicht richtig auf dem Schirm und war komplett überrascht, als ich hörte, dass es bereits am 11. Juni losgeht, nur 13 Tage nach dem Champions League-Finale.
Ich glaube, in den letzten Monaten ist vielen von uns ein bisschen die Lust am Fußball vergangen. Jedenfalls an der vorherrschenden Form des Fußballs. Ich fühle mich manchmal ein bisschen in die 1980er Jahre zurückgeworfen, als ich mein Interesse am Fußball rechtfertigen musste.
R: Ich vermute, du spielst auf die Zeit rund um die WM 1978 in Argentinien an. Ich werde darauf zurückkommen. Aber nochmal kurz zu Gegenwart und Zukunft: Ich möchte mit dir ja eigentlich auch weniger über die EM aktuell sprechen, sondern über das dann folgende Turnier, die WM 2022 in Katar. Einige Stimmen fordern seit Monaten, dass diese WM boykottiert wird, weil – so heißt es in einem Aufruf – „so viele Gebote der sportlichen und politischen Fairness verletzt (werden), dass es uns unverantwortlich erscheint, an diesem Ereignis teilzuhaben“.
Verfasst wurde der Aufruf auch von dir. Man kann darin eine ganze Latte an Gründen für eure Ablehnung nachlesen: Menschenrechte werden verletzt, es herrschen inakzeptable Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen, es gäbe keine gewachsene Fußballkultur und überhaupt hätte es vor allem kommerzielle Gründe, die WM an Katar zu vergeben, nicht sportliche. Ganz davon abgesehen, dass die Abstimmung pro Katar wohl nur aufgrund von Bestechungsgeldern zustande gekommen ist. Hand aufs Herz: Was war für dich das entscheidende Motiv für den Aufruf?
DSM: Ich fange mal mit dem Punkt an, der für mich die geringste Bedeutung hat: Dass Katar keine gewachsene Fußballkultur hat. Was in der Aufzählung hingegen noch fehlt, ist Katars Finanzierung islamistischer Bewegungen. Klar, man wird gefragt: Warum habt ihr nicht bei der WM 2018 in Russland schon zum Boykott aufgerufen? Haben wir tatsächlich nicht, aber wir haben schon die Begleitumstände des Turniers kritisiert. Und die Vorliebe der FIFA für autokratische Regime, auf die ich noch einmal zurückkommen werde. Katar hat für mich auch noch einmal eine etwas andere Dimension.
R: Welche?
DSM: Dass die Boykott-Forderung populär wurde, populärer als wir dachten, ist wohl dem Umstand geschuldet, dass viele das Gefühl haben, hier werde eine rote Linie überschritten, wir müssen jetzt ein Stopp-Schild setzen. Die Boykott-Bewegung profitiert von einem allgemeinen Unbehagen gegenüber der Entwicklung des Profifußballs. Und dieses Unbehagen wurde in den letzten Jahren reich gefüttert, zuletzt noch durch das Projekt einer European Super League. Was mich überrascht hat, war dass sich über die üblichen Kritiker:innen hinaus auch eine Mehrheit der Fans gegen das Turnier ausspricht. Das habe ich nicht erwartet.
R: Also gibt es nicht den einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – aber übergelaufen ist es trotzdem? Gegen wen richtet sich der Unmut?
DSM: Es geht in unserer Kampagne nicht nur um die Herrschenden in Katar. Es geht auch um die FIFA, die offensichtlich gerne Turniere an autokratisch regierte Länder vergibt und mit deren Politik des Sportwashings null Probleme hat.
Autokratische Regime sind dazu in der Lage, sportliche Großveranstaltungen auch gegen eine etwaige Opposition durchzusetzen. Sie garantieren für einen organisatorisch perfekten und störungsfreien Verlauf. Und Regime, die Sportwashing betreiben, sind dazu bereit, in das immer gigantischere Projekt einer WM immense Summen zu investieren.
Imagepflege durch Sportevents
R: Stichwort Sportwashing. Vielleicht erklärst du uns mal, wie das funktioniert. Ich wollte ja ohnehin nochmal auf die WM 1978 zurückkommen…
DSM: Ja, die WM im von einer Militärdiktatur regierten Argentinien gilt als Paradebeispiel hierfür. FIFA-Bos Joao Havelange begrüßte den Putsch der Militärs damals ebenso wie Hermann Neuberger, Boss des DFB und Organisationschef des Turniers. Neuberger war sich nicht zu schade, damals zu behaupten, dass „die Wende zum Besseren (…) mit der Übernahme der Macht durch die Militärs ein(trat). Wir haben dadurch Partner mit Durchsetzungsvermögen bekommen.“
Als die FIFA im Vorfeld der WM 2014 Probleme mit der örtlichen Bevölkerung bekam, erklärte der damalige Generalsekretär des Weltverbands, Jerome Valcke: „Manchmal ist weniger Demokratie besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, ist es für uns Organisatoren leichter.“ Valcke freute sich noch darüber, dass die nächsten Turniere in Russland und Katar stattfinden.
Diktaturen als gern gesehene Geschäftspartnerinnen
R: Das ist ja auch in der Debatte um Boykott der beliebteste Einwand: Dass gerade die öffentliche Auseinandersetzung rund um die Veranstaltung dazu führe, dass es zu Verbesserungen kommt. Weil der Druck auf die jeweiligen Regierungen für Zusagen zu Reformen so hoch ist. Gibt es dafür Beispiele – und vor allem Anzeichen in Bezug auf Katar?
DSM: Dieser Logik folgend müsste ich für Nordkorea als nächsten Austragungsort plädieren, um mit dem dortigen Regime und den Arbeiter:innen im Lande in einen Dialog zu treten.
Da wird ein bisschen suggeriert, dass Katar den Zuschlag erhielt, weil man sich davon eine Demokratisierung des Emirats erhoffte. Das ist natürlich blanker Unsinn. Eher schon war das Gegenteil der Fall. Bei der Vergabe der WM 2022 haben solch hehre Absichten nicht die geringste Rolle gespielt. Die FIFA hat sich der Situation der Menschenrechte in Katar erst einige Jahre später gewidmet – auf Druck von Menschenrechtsorganisationen. Und man kann nicht behaupten, dass diese Politik bislang sehr erfolgreich war. Auch vor der WM 2018 hörten wir: „Das Turnier wird das Land ändern!“ Nun, das Ergebnis ist bekannt. Ganz zu schweigen von Peking 2008.
R: Du meinst, das sind alles nur Nebelkerzen?
DSM: Ich glaube einfach nicht, dass die FIFA ein authentisches Interesse an Menschenrechten hat. Es geht um etwas anderes. Einerseits kommt man mit autokratischen und korrupten Regimen gerne ins Geschäft – im Übrigen auch die Uefa in Europa. Siehe das Einspringen des ungarischen Orban-Regimes, als Corona der Austragung von Champions League-Spielen hineingrätschte.
Anderseits gibt es eine demokratische Öffentlichkeit und auch Sponsoren, die diese Kollaboration sehr kritisch betrachten. Letztere fürchten auch um ihr Image. Was tun? Man bittet das Austragungsland, sich ein bisschen zu bewegen – zeitlich und räumlich begrenzt. Kleine Reformen werden zu großen, ja historischen hochgejazzt. Rückschläge hingegen eher verschwiegen.
In Wirklichkeit interessieren Menschenrechtsverletzungen nicht
Im Mai 2017 hat die FIFA eine Erklärung mit dem Titel „Bekenntnis der FIFA zu den Menschenrechten“ veröffentlicht. Unter anderem heißt es in der Erklärung: „Die FIFA ist bestrebt, innerhalb der Organisation und bei all ihren Tätigkeiten ein diskriminierungsfreies Umfeld zu schaffen.“ Doch in Wahrheit gibt es zwischen der Erklärung und der Entscheidung pro Katar gar keinen Widerspruch. Denn das „Menschenrechtsbekenntnis“ der FIFA hat eine entscheidende Einschränkung, die in folgendem Passus deutlich wird: „Die FIFA ist zudem bestrebt, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte, die über ihre Geschäftsbeziehungen einen direkten Bezug zu ihren Tätigkeiten, Produkten oder Dienstleistungen haben, zu vermeiden oder einzudämmen.“
Das bedeutet im Fall Katar nichts anderes als: Grundrechtsverletzungen interessieren die FIFA nur dann, wenn sie im direkten Kontext mit der WM stehen. Also: Sklavenähnliche Arbeitsbedingungen sind nur dann relevant, wenn sie an WM-Baustellen herrschen. Die Verfolgung von Schwulen und Lesben ist nur relevant, sofern sie den Gästen des WM-Turniers zustößt.
Mit anderen Worten: Die FIFA verlangt eine Art Vier-Wochen-Demokratie für internationale Gäste des Turniers. Eine Diktatur, die lediglich für vier Wochen ein freundliches Gesicht zeigt, bleibt aber eine Diktatur und sollte kein WM-Gastgeber sein. Wer es mit den Menschenrechten ernst meint, darf sich nicht damit zufrieden geben, dass er bzw. sie während des Turniers von Menschenrechtsverletzungen nicht zu sehen bekommt.
R: Kann man es nicht auch andersrum deuten und sagen, dass die Boykott-Debatte wirklich zu einer Öffentlichkeit für Menschenrechtsverletzungen in Katar geführt hat, die es bei Vergabe an z.B. Frankreich nicht gegeben hätte? Ich mein, wenn sich sogar die DFB-Nationalmannschaft genötigt sieht, mit T-Shirts aufzulaufen, auf denen „Human Rights“ geschrieben steht, dann wirkt das zwar schnell wie eine Marketing-Maßnahme, aber erreicht ja trotzdem ein breites Publikum, die mit dem Thema sonst nicht konfrontiert wird.
DSM: Ja und nein. Sylvia Schenk, Mitglied im FIFA-Menschenrechtsrat, war sich nicht zu schade, diese eigentlich harmlose Aktion zu kritisieren. Die Arbeitsverhältnisse in Katar gäben keinen Anlass für Proteste. Das würde ich nicht mal für die hiesigen Arbeitsverhältnisse unterschreiben. Aber Schenk behauptet das sogar für Katar.
R: Aber auch ein Beitrag in der 11FREUNDE, die einen Großteil der Kritik des Aufrufs teilt, kommt eher zu dem Schluss, dass die Boykott-Forderung nicht sinnvoll ist. Hat dich das überrascht?
DSM: Ich fand den Artikel insgesamt sehr gut recherchiert und differenziert. Ich fand ihn nicht gegen die Boykott-Bewegung gerichtet, mit der Tonlage konnte ich auch leben. Hier wurde nichts relativiert oder schön geredet. Menschen, die meine Kritik an der WM teilen, aber einen Boykott nicht für das richtige Mittel erachten, sind für mich keine politischen Gegner.
Probleme habe ich mit Leuten, die die Bedeutung von Menschenrechten relativieren. Wenn die Verhältnisse in Katar damit entschuldigt werden, das Emirat sei halt ein „rückständiges Land“ aus „europäischer Sicht“. Wo landen wir, wenn wir mit Begriffen wie Tradition und Kultur argumentieren? Sind Demokratiedefizite in Russland und China Tradition? War es die Apartheid in Südafrika? Ist es der Missbrauch in der Katholischen Kirche? Der Antisemitismus in Deutschland? Menschenrechtsverletzungen in Katar sind keine „Kultur“, sondern Ausdruck bestimmter Herrschaftsverhältnisse. Eurozentrismus ist es gerade, wenn wir „den Arabern“ oder „den Moslems“ unterstellen, Homophobie oder Frauendiskriminierung gehöre nun mal zu ihrer rückständigen Kultur.
Aber zurück zur Frage: Es gibt Menschen, die unterstützen zwar nicht unsere Boykott-Kampagne, teilen aber unsere Kritik am Austragungsland und der FIFA. Amnesty International ist z.B im Gespräch mit den Herrschenden in diesen Ländern, da kann man nicht gleichzeitig zum Boykott aufrufen. Sie hat eine andere Aufgabe als wir. Aber der Verweis auf eine starke Boykott-Bewegung kann ihr dabei als Druckmittel dienen. Nur wenn ich diese Bewegung denunziere, entwaffne ich mich selber.
Warum die FIFA Turniere auch bei Menschenrechtsbrechern ausrichtet
R: Da hake ich mal ein: Was genau ist der Vorteil für die FIFA und auch nationale Fußballverbände, Turniere in solchen Ländern auszutragen? Es wird ja nicht allein die einfachere Durchführung aufgrund fehlender demokratischer Regierungen sein.
DSM: Es geht nicht nur um autokratische Strukturen, sondern auch die Bereitschaft dieser Länder, in ein Turnier zu investieren. Katar ist zwar ein kleines und bevölkerungsarmes Land, aber ökonomisch ein Global Player, ein mächtiger Geldgeber und Investor. Die Qatar Holding hält 17 Prozent der Aktien von VW, dem größten deutschen Unternehmen, an Siemens hält das Emirat 3,27 Prozent, an Hapag Lloyd 14 Prozent und an der Deutschen Bank 6,1 Prozent – im Aufsichtsrat der Bank sitzt Ex-Wirtschafts- und Außenminister Sigmar Gabriel. Der Spiegel schreibt: als Aufsichtsrat „von Katars Gnaden“.
Da die Katarer wissen, dass Gas- und Ölvorkommen irgendwann zu Ende gehen werden, verfolgt das Emirat wie andere Ölstaaten auch, schon seit längerem die Strategie, Kapital in ausländische Konzerne und Immobilien zu investieren. Es heißt, Christian Wulff habe sich als Bundespräsident beim DFB für die WM in Katar eingesetzt. Die deutsche Wirtschaft gehört zu den Profiteuren des Turniers. Ähnlich war es in Frankreich, wo Nicolas Sarkozy die Rolle des Cheflobbyisten übernahm.
Dazu muss man wissen: In den 1970ern wurde die FIFA zu einem Unternehmen, unter der Federführung des Präsidenten Joao Havelange. Während seiner Zeit expandierte das Turnier von 16 auf 32 Teilnehmer und drang mit den USA und Japan/Korea in neue Regionen vor. Später kam noch Afrika hinzu.
Es geht um Markterschließung für Großkonzerne
R: Wenn man sich die FIFA als Unternehmen denken muss, dann war das weniger eine internationalistische Geste, sondern die Erweiterung des Einflussgebiets?
DSM: Havelanges wichtigster Unterstützer war Adidas-Besitzer Horst Dassler. Er versprach sich von dieser Expansion die Erschließung neuer Märkte für seine Drei-Streifen-Produkte. Auch Coca Cola und andere Weltkonzerne kamen an Bord. Die FIFA erfuhr eine kommerzielle Ausrichtung und avancierte zum Milliardenkonzern. Unter der Führung von Havelange wurden die Ambitionen aufstrebender Entwicklungsnationen mit den marktpolitischen Absichten von multi- und transnationalen Interessengruppen aus der sogenannten „ersten Welt“ verknüpft.
Auch im Falle von Katar geht es um die Eroberung von Märkten. Die FIFA agiert gewissermaßen als Türöffner und verdient dabei mit. Kurz gefasst funktioniert das so: Die FIFA geriert sich als diktatorische Nebenregierung, wir können das System FIFAcracy nennen – an Stelle von democracy. Das Austragungsland muss der FIFA und ihren Partnern die Befreiung von der Einkommens- und Umsatzsteuer sichern. Des Weiteren verlangt der Verband Exklusivrechte für seine internationalen Sponsoren. Die Kosten für Stadien und sonstige Infrastruktur trägt der Gastgeber, die Gewinne hingegen streicht der Verband überwiegend selbst ein.
Katar wird das nicht stören, aber in einem Land wie Südafrika hinterließ die WM einen fatalen Schuldenberg. Südafrika investierte 3,6 Mrd. Euro in das Turnier 2010, höchstens ein Drittel floss in die heimische Wirtschaft zurück. Die FIFA zog aber mit einem Gewinn von geschätzten 3 bis 4 Mrd. Euro wieder ab. Ganz abgesehen von einer Reihe europäischer und asiatischer Konzerne, die auch profitiert haben.
R: Nun ist diese ganze Entwicklung im Fußball, der sich kommerziellen Gesichtspunkten unterordnet, nicht neu und dass der Aufruf zur Neuvergabe der WM führt, damit hast du sicher auch nicht gerechnet. Was waren also deine Erwartungen, oder kühnsten Hoffnungen?
DSM: Zunächst sind wir einfach überrollt worden. Wir dachten, Katar würde erst im Herbst 2021 zu einem Thema. Aber dann kam die Klub-WM in Katar, von der zunächst niemand Notiz nahm. Bis sich Kalle Rummenigge auf dem Berliner Flughafen darüber empörte, dass das Nachtflugverbot sogar für den FC Bayern gilt. Hoeneß sah einen „Skandal ohne Gleichen“ und meinte damit keineswegs die Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse der Arbeitsmigrant:innen in Katar.
Das Ganze im Übrigen nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts der von der DFL eingerichteten Taskforce „Zukunft des Profifußballs“, in dem die Profiklubs mehr gesellschaftspolitisches Verantwortungsbewusstsein und Bescheidenheit versprachen. Dann riefen norwegische Profiklubs zum Boykott auf. Das hatte es vorher noch nicht gegeben: Profiklubs, nicht „nur“ Fan-Initiativen. Last but not least: Der Bericht des „Guardian“ über die vielen Toten auf den Baustellen in Katar.
Das ist alles gar nicht wenig. Aber klar, auf der anderen Seiten haben wir der FIFA vor ca. fünf Monaten einen Fragenkatalog geschickt. Harmlose Fragen, kannst du in einer halben Stunde beantworten. Über einen mit dem Thema Menschenrechte befassten Mitarbeiter, den ich sehr schätze, wurde uns eine Beantwortung der Fragen zugesagt. Auf die Antworten warten wir noch heute. Wir können aber über die nationalen Verbände Druck ausüben.
R: Wer ist wir? Und wie machen „wir“ das? Überhaupt: Können Fans vorm Fernseher, die Katar zwar eine schlechte Wahl finden, aber trotzdem gerne dem Turnier folgen, etwas ausrichten?
DSM: Ich kann dich beruhigen: Da ich mich für taktische Dinge wie die Entwicklung des Spiels allgemein interessiere, werde auch ich mir die eine oder andere Begegnung anschauen. Andere wiederum werden auch das nicht tun. Es gibt trotzdem viele Möglichkeiten, seine Ablehnung dieses Turniers zu demonstrieren.
Wir müssen das Ereignis, das der FIFA Geld und dem Staat Katar Renomee einbringen soll, durch unsere Aktivitäten konterkarieren. Wir müssen uns mit der Situation in Katar beschäftigen und sie anprangern. Wir müssen die Strukturen in der FIFA und in den nationalen Verbänden kritisieren, die solch eine Entscheidung möglich gemacht haben. Wir müssen Forderungen entwickeln, die die Flut des Geldes im Profifußball eindämmen, weil der Fußball daran kaputtgeht.
Der Boykott soll also ein aktiver sein. Es geht um inhaltliche Veranstaltungen, auf denen es nicht nur um Katar geht, sondern auch und gerade um die FIFA. Und wie wir uns einen internationalen Fußball vorstellen. Wir können Postkarten- oder Mailaktionen in Richtung DFB und die FIFA-Sponsoren starten, Choreos auf den Rängen organisieren, T-Shirts, Aufkleber oder Plakate mit unseren Botschaften vertreiben. Wir sollten keine Produkte mit WM-Logos kaufen oder tragen und, wenn möglich, auch keine der großen WM-Sponsoren wie beispielsweise Adidas oder Coca Cola. Wir können auf den Plätzen unserer Vereine, also auch der zahlreichen Amateurvereine, Transparente aufhängen, mit denen wir gegen die Politik der FIFA protestieren.
Ganz witzig finde ich, was sich der Verein KSV Hessen Kassel hat einfallen lassen: Der Verein hat erklärt, dass er keine Spieler zur WM abstellen wird… Dass Hansi Flick mit Spielern des KSV plant, glaube ich nicht. Aber es ist ein Statement – auch gegenüber dem DFB. Andere Klubs sollten dieses kopieren. Dann können wir während des Turniers alternative Turniere veranstalten und diese unter ein Anti-FIFA-Motto stellen.
R: Wie lässt sich für die Zukunft verhindern, dass Europa- und Weltmeisterschaften an Länder wie Katar vergeben werden?
DSM: Wir haben nur eine Chance: Diese glamouröse Fußballshow, die die FIFA und das Austragungsland Katar inszenieren, so massiv zu stören, dass dies auf zukünftige Entscheidungen Einfluss nimmt. Für FIFA, für Sponsoren und für autoritäre Austragungsländer soll es unattraktiv werden, eine WM auf eine derart pervertierte Art zu präsentieren.
Bildnachweise:
Foto 1: Dietrich Schulze-Marmeling
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